Was unterscheidet den Pilger vom Wanderer?
„Ihr Pilger seid ja so offene Menschen.“ – „Mich wundert, dass ihr das Zimmer abgeschlossen habt – seid ihr denn nicht Pilger und habt Vertrauen?“ Solche und ähnliche Aussagen, die wir auf unserer Pilgerwanderung, zwischen dem 1. bis 14. Juni hörten, zeigen mir einmal mehr, wieviele Vorstellungen in den Köpfen der Menschen vorhanden sind, was ein „echter Pilger“ ausmacht und was ihn unterscheiden sollte vom „normalen Wanderer“. Ich habe hier bereits einmal darüber gebloggt: (klickmich)
Ein Ritual hat sich bewährt auf unseren Jakobswegen und das machen wir auf sonstigen Wandertouren nicht: wir beten in jeder Kapelle und Kirche, die auf dem Jakobsweg offen steht. Leider sind viele Kirchen geschlossen.
Eine Wirtin unterwegs hat uns grad ziemlich in Beschlag genommen und uns ihre gesamte Lebensgeschichte samt psychosomatischen Beschwerden gejammert. Es war grenzwertig. Auf die eine Seite wollten wir uns bewusst Zeit einräumen für Begegnungen mit Menschen auf dem Weg, andererseits sind wir keine Seelsorger, keine wandelnden Priester, geschweige denn Therapeuten und es sollte keine Selbstverständlichkeit sein, uns die eigene Lebenslast in unsere Rucksäcke packen zu dürfen. Zumindest fragen, ob es ok ist, wäre nett gewesen. Sie hat uns ein Kerzli mitgegeben, welches wir bei Gelegenheit in einer Kapelle für sie anzündeten, für sie beteten und so diese Last wieder aus unseren Rucksäcken nahmen und beim Kreuz deponierten.
Einschub: ich hatte den Beitrag hier bereits veröffentlicht, da erreichten mich persönliche Feedbacks wie auch solche über diverse Jakobswegsforen. Gemeinsamer Nenner: es scheint eine verbreitete Meinung zu sein, dass Jakobspilger wandelnde Seelsorger seien, weil sie doch mit einem besonders offenen Herzen für Menschen unterwegs seien. Es gibt Gastgeber, welche von Pilgern geradezu erwarten, dass sie seelsorgerliche Zuhörer sind. Und es gibt Pilger, die anderen Pilgern vorwerfen, nicht echte Pilger zu sein, sondern hochnäsig, wenn sie zu seelsorgerlichen Diensten nicht bereit sind. Mich haben solche Vorwürfe getroffen und ich staune über solche Definitionen von echten und unechten Pilgern. Ich wusste schon, dass da diverse Meinungen kursieren, aber dies hier, dass von Pilgern ganz selbstverständlich erwartet wird, dass sie Seelsorger sind, das ist mir neu. Ich gebe zu Bedenken, dass Pilger ganz normale Menschen sind und jeder seinen eigenen Rucksack zu tragen hat (im übertragenen Sinn). Nicht jeder Mensch kann gut damit umgehen, wenn er von heftigen Erlebnissen, Traumata erzählt bekommt. Mein Mann und ich sind keine Therapeuten und sind ungeübt darin, heftige Lebensschicksale, die wir erzählt bekommen, zu verarbeiten. Wir sind Menschen, die sehr wohl ein offenes Ohr für unsere Mitmenschen haben. Aber es gibt Grenzen von zumutbaren Lebensgeschichten, die besser in professionelle psychotherapeutische Behandlung gehörten. Kommt dazu, dass ein Pilger, wenn er in einer Unterkunft ankommt, oft erschöpft ist, eine Dusche, Verpflegung, ein Bett und Ruhe wünscht. Von ihm dann zu erwarten, dass er sich stundenlang hinsetzt und seinen Gastgebern sozusagen die Lebensbeichte abnimmt, ist unhöflich, gar egoistisch. Ist ein Pilger dazu bereit – umso schöner. Aber es darf nicht als Selbstverständlichkeit erwartet werden.
Ich habe mich gefragt, woher diese Erwartungshaltung wohl kommen könnte. Wahrscheinlich daher, dass sich Menschen nicht einfach so auf einen Pilgerweg begeben, wie auf eine Wanderung und die Vermutung naheliegt, es müssten ganz besonders einfühlsame Menschen sein, die sich auf eine Pilgerschaft aufmachten. Ich gebe zu bedenken, dass sich gerade auf den letzten 100 km zum Ziel Santiago de Compostela, viele Gruppen, darunter viele Jugendliche befinden, die den Weg teilweise auch nur als sportlicher Motivation heraus, gehen. Erwarten die Menschen dort vor Ort wohl ebenfalls, dass jeder Pilger ein Seelsorger ist? 😉 Zudem hat das Pilgern historische Hintergründe und ich kopiere hier rein, was ich früher mal bloggte:
PILGERREISEN IM MITTELALTER. Christliche Fernpilgerziele am Beispiel von Jerusalem und Santiago de Compostela Maria E. Dorninger
Hier ein Auszug:
“Es gab zahlreiche Motive, um eine Pilgerreise
(im Mittelalter) zu unternehmen. Die peregrinatio religiosa, um einen Ausdruck von B. Kötting zu verwenden, brachte einen spirituellen Wert mit sich. Man unternahm die Pilgerfahrt für das Heil der Seele und um die Vergebung der Sünden zu erlangen, als Dank oder als Bußfahrt, man hoffte auf Linderung oder Heilung von Krankheiten, zumindest auf die Fürsprache eines Heiligen. Man unternahm die Reise auch stellvertretend für andere. In dieser Form konnte sie auch professionell betrieben werden, wofür es spezielle Tarife gab.
Pilgerreisen veranlasste man auch testamentarisch. Ebenso wurde es im Spätmittelalter vermehrt Usus, auch Kriminelle zur Sühne zu Pilgerreisen zu verpflichten, wobei sich die Heimatgemeinde zugleich des Delinquenten für einige Zeit sehr praktisch entledigen konnte.
Eine Pilgerreise gründete sich oft nicht allein auf religiöse Motive. Sie konnte auch mit Geschäftsinteressen verbunden oder für erste Informationen zu weiteren Handelsbeziehungen genutzt werden.”
Ein weiterer Einschub betrifft die Reaktionen auf die untenstehenden Kilometerangaben, auch die der gefahrenen Strecke. Hierzu bekam ich zu hören, dass wir bluffen würden, dass wir zu akribisch die Kilometer zählen und uns rechtfertigen, wenn wir mal den ÖV nehmen würden. Lasst uns doch einfach die Freude daran, zu sehen, wieviele Kilometer wir zu Fuss schafften! Wir geben damit nicht an, denn uns ist bewusst, dass andere Pilger doppelt soviele Tageskilometer schaffen. Aber für unsere gesundheitlichen Herausforderungen, die wir zu meistern haben, sind wir stolz auf uns. Warum kann man sich nicht einfach mit uns mitfreuen? Ich gab mir keine besondere Mühe, die Kilometer akribisch zu notieren, denn das hat die Relive App automatisch für uns gemacht. Frühere Aufzeichnungen über unsere zurückgelegten Kilometer, waren für uns hilfreich für die letzte Planung. Und wenn diese Etappenaufzeichnungen für jemand anderen hilfreich sein können, dann ist es doch auch gut, nicht wahr?
Unsere Strecke
Wir starteten dort, wo wir zuletzt ankamen (lies hier) und das war in Eichstätt.
- Etappe: Eichstätt-Bergen, 3 Std. 20 Min. 13 km
- Etappe: Bergen-Rennertshofen, 4 Std.. 14 km
- Etappe: Rennertshofen-Marxheim, 3 Std. 30 Min. 12,3 km
- Etappe: Marxheim-Buchdorf, 3 Std. 30 Min. 13,5 km
- Etappe: Buchdorf-Donauwörth, 3 Std. 11,9 km
- Etappe: Donauwörth-Kloster Holzen, 4 Std. 14,5 km
- Etappe: Kloster Holzen-Biberbach, 4 Std. 13,7 km
- Etappe: Biberbach-Gablingen, b. Augsburg, 2 Std. 30 Min. 10,1 km
- Etappe: Augsburg (Stadtrand)-Bobingen, 2 Std. 30 Min. 10 km
- Etappe: Bobingen-Reinhardshofen, 3 Std. 12,4 km
- Etappe: Reinhardshofen-Konradshofen, 2 Std. 40 Min. 9,8 km
- Etappe: Konradshofen-Kirch Siebnach, 2 Std. 40 Min. 10,1 km
- Etappe: Kirch Siebnach-Türkheim, 3 Std. 35 Min. 14km
- Etappe: Türkheim-Bad Wörishofen, 2 Std. 10 Min. 8,3 km
Total gelaufene Kilometer (zwei kurze Fahrten mit dem ÖV abgezogen): 167,6
Wir haben dann aber manchmal noch Dorfspaziergänge gemacht, nachdem wir am Etappenzielort angekommen, geduscht und uns der Rucksäcke entledigt haben. Und einmal haben wir einen Ausflug nach Landsberg gemacht. Auch in München waren wir am Anfang unserer Ferien zu Fuss unterwegs. Dies macht sage und schreibe nochmals 32,7 km aus. So waren wir in 16 Tagen Deutschlandferien insgesamt 200,3 km zu Fuss unterwegs!
Vor einem Jahr schrieb ich:
«Letztes Jahr (2022) waren wir auf der Strecke Regensburg bis Rothenburg ob der Tauber 172 km weit zu Fuss unterwegs. Dieses Jahr (2023) 90 km. Nun haben wir also von der tschechischen Grenze bis Rothenburg ob der Tauber auf dem ostbayrischen Jakobsweg zusammen 262 km zurückgelegt.»
Und nun sind es ab der tschechischen Grenze bis Bad Wörishofen insgesamt 429,6 km zu Fuss!
Erlebnisse unterwegs
Geprägt hat unsere letzte Pilgerwanderschaft das Thema Hochwasser. In Donauwörth war der Jakobsweg total überschwemmt und wir mussten für 5 km den Zug nehmen. (Dies ist in den Wanderkilometern abgezogen). Wir haben ein paar Hochwassererlebnisse von Dorfbewohnern gehört und was alle Betroffenen wohl am meisten beeindruckte, war die Geschwindigkeit, mit der sich ein Bächlein zum reissenden Fluss entwickeln konnte. Unterwegs säumten teilweise Sandsäcke unseren Weg. Die Menschen waren am Aufräumen, trockneten Fotos an der Sonne, räumten ihre Häuser und Keller aus und Container ein. Auf unseren Wegen konnten wir erahnen, wie hoch das Wasser noch zwei, drei Tage vorher stand. Wären wir früher dran gewesen, hätten wir unsere Pilgerschaft abbrechen müssen. Unzählige Felder standen unter Wasser.
Unser Wanderwetter war ideal, trotzdem der deutsche Wetterdienst weiterhin warnte, die Hochwassergefahr sei nicht gebannt. Es waren Starkregen, heftige Gewitter und gar Böen in Orkanstärken vorausgesagt, aber nichts davon traf ein. Einmal vibrierte mein Handy und gab einen Alarmton, trotz meiner Stummschaltung und Deaktivierung der mobilen Daten. Auf dem Display war eine rote Hochwasserwarnung. Aber trotz allen Warnungen und Vorhersagen, erlebten wir nur ein paar Mal leichten Regen und unter dem Tramdach in Augsburg, sowie ein anderes Mal in unserer Unterkunft, leichte Gewitter. Ansonsten erlebten wir Sonne und bewölkten Himmel – nicht zu heiss und nicht zu kalt zum Wandern.
Nebst den eingangs erwähnten speziellen Gesprächen, erlebten wir: Wirte, die trotz Wirtesonntagen für uns da waren und für uns extra Essensmöglichkeiten organisierten, wie wir es bereits in den Vorjahren in Deutschland auf dem Jakobsweg erlebten. Wir wurden erneut von vielen Leuten angesprochen, die uns über das Woher und Wohin unseres Weges befragten. Eine Pilgerbetreuerin sah auf einer Facebook-Jakobspilgergruppe meine Beiträge und lud uns zu einem Kaffee ein – wir nahmen die Einladung gerne an. In Augsburg besuchten wir das Gebetshaus, in dessen Livestream ich mich seit Corona ein paar Mal reinklickte. Wir wurden durchs Haus geführt von einer Kollegin unserer Tochter. Sie absolviert dort eine sogenannte Jüngerschaftsschule.
Ich wundere mich jedes Jahr, dass wir trotz stundenlangem Wandern durch den Wald selten Tiere sehen. Ich meine, wir sind doch nicht so laut unterwegs? Nebst vielen Vögeln, haben wir ein Reh und einen Fuchs gesehen. Und leider einen verletzten Jungfuchs, der uns so leidtat. Aber er war weit weg von der Zivilisation und floh mit Müh und Not vor uns. Wir hätten ihm nicht helfen können.
Apropos Wälder: wir durchwanderten den grossen Naturpark Augsburg – westliche Wälder. Wir wunderten uns über immer noch grosse Waldstücke mit Monokultur und erhielten leider keine Antwort von Zuständigen, ob und wie gegen diese traurigen Monokulturen angegangen wird. Wie kann ein Naturpark sich so nennen, wenn dort ein grosser Windmühlepark geplant ist, weiterhin Holzbewirtschaftung und glaub auch Industrie möglich ist und «normale» Dörfer in diesem «Park» sind? Wie kommt der «Naturpark» zu dieser Bezeichnung? Wir nahmen diesen «Naturpark» nicht anders wahr, als andere Gegenden, durch die wir wanderten. Was ist der Unterschied, was macht es aus? Vielleicht antwortet mir ja jemand durch diesen Blogbeitrag auf diese Fragen.
Wir wurden immer wieder gefragt – auch die Jahre vorher, wie wir Schweizer mit unserer schönen Postkartenlandschaft zuhause überhaupt auf die Idee kommen würden, in Deutschland zu wandern. Über die Gründe allgemein habe ich hier mal gebloggt: (klickmich) Aber abgesehen davon, beeindruckten uns das flache Land, der weite Horizont und ein Himmel, der grösser zu sein scheint, als zuhause, die vielen unendlich grossen Felder, herzige kleine Dörfer, grosse Waldstücke, durch die man stundenlang wandert, ohne einer einzigen Menschenseele zu begegnen. Dieser Unterschied zu unserer bergigen und in den Niederungen leider mittlerweile zu überbauten Schweiz, faszinierten uns. Aber als ich die ersten Berge bei unserer Heimfahrt erblickte, merkte ich doch, wiesehr ich sie vermisst habe.
Zum Schluss noch ein paar kunterbunte Eindrücke von unserem Jakobsweg Eichstätt-Bad Wörishofen – ohne Bilderklärungen – ich glaube, die Bilder sind selbstredend:
So – das nächste Mal werden wir in Bad Wörishofen wieder starten. Ein guter Ausgangspunkt, bei dem man mit Wellnessen viel Energie tanken kann, um die Strecke bis zum Bodensee unter die Füsse zu nehmen. Man liest sich! 😉
Neueste Kommentare