Es war vor etwas mehr als 20 Jahren – wir hatten unseren ersten Computer mit Internetzugang – ich meldete mich in einem Forum an und sollte einen Nicknamen für mich wählen. Als Pilgrim wurde ich dann bekannt und ich liebe diesen Namen bis heute. Ich dachte dabei an The Pilgrim’s Progress von John Bunyan, dessen Verfilmung mich beeindruckte.

Pilgrims Progress – das Leben als Pilgerreise

Ich sehe meinen gesamten Lebensweg als eine Pilgerreise. Es gibt so viele Lebenssituationen, welche man bildhaft mit einer Wanderung vergleichen kann: dunkle Täler mit Verzweiflung, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit, wunderschöne Höhen mit Weitblick, leichte Wege, auf denen es sich singen und lachen lässt und schwere Wege, auf denen der Atem fehlt und man sich nach dem Sinn fragt. Nebel kann sich lichten oder falls er “schlegeldicht bleibt”, das Unterwegs-Sein aussichtslos erscheinen lassen. Begegnungen auf dem Weg sind Spiegelungen des eigenen Ichs, des eigenen Schattens oder sie beleben und inspirieren. Von manchen Menschen, mit denen man ein Stück des Weges teilt, mag man sich nur mit Wehmut verabschieden, bei anderen ist man froh, wenn der Weg sich gabelt und der Mitpilger sich für einen anderen Weg entscheidet. Und welche Rolle spielt Gott auf meiner Lebensreise?

Wie kamen wir auf die Idee des Pilgerns auf dem Jakobsweg?

Wir wohnen in unmittelbarer Nähe des Jakobswegs, der von Einsiedeln in Richtung Flüeli Ranft und über den Brünig führt. Seit Jahrzehnten beobachten wir die Jakobspilger, mit ihren Muscheln als Erkennungzeichen. Manche tragen schwere Rucksäcke, andere lassen sich das Gepäck von Eseln tragen. Woher kommen sie und was ist ihr Ziel? Was treibt sie an, die Mühsal des Pilgerns auf sich zu nehmen? Ab und zu fragen wir das die Pilger oder laden sie zu einem Erfrischungsgetränk ein.

Unsere mittlere Tochter hat vor vor einem Jahr den Weg von Porto nach Santiago de Compostela ganz allein unter ihre Füsse genommen. Sie kam mit der Pilgerurkunde und vielen Erlebnissen heim und als dann auch Menschen aus unserem Bekanntenkreis von ihren Pilgererfahrungen berichteten, nahm es meinem Mann und mir plötzlich auch “den Ärmel rein”. Übrigens: Hape Kerkelings “Ich bin dann mal weg”, habe ich erst nach unserer Jakobwegstour gelesen und den Film haben wir ebenfalls erst nach unserer Pilgertour angesehen.

Wandern – Pilgern – gibts da einen Unterschied?

Ich stellte diese Frage in einem Jakobsweg-Forum auf Facebook. Die Antworten gaben mir zu denken, war doch öfters die Rede davon, dass Pilgern weh tun müsse, im Gegensatz zum blossen Wandern. Zum Beispiel in solchen Aussagen: “No pain, no glory”. Ich spüre hier ein grosses religiöses Leistungsdenken heraus. Früher war es ja so, dass einem die Sünden erlassen wurden, wenn man mit der Urkunde aus Santiago de Compostela nach Hause kam. Jemand in diesem Jakobsweg-Forum fand das hier dazu:

PILGERREISEN IM MITTELALTER. Christliche Fernpilgerziele am Beispiel von Jerusalem und Santiago de Compostela Maria E. Dorninger
Hier ein Auszug:
“Es gab zahlreiche Motive, um eine Pilgerreise
(im Mittelalter) zu unternehmen. Die peregrinatio religiosa, um einen Ausdruck von B. Kötting zu verwenden, brachte einen spirituellen Wert mit sich. Man unternahm die Pilgerfahrt für das Heil der Seele und um die Vergebung der Sünden zu erlangen, als Dank oder als Bußfahrt, man hoffte auf Linderung oder Heilung von Krankheiten, zumindest auf die Fürsprache eines Heiligen. Man unternahm die Reise auch stellvertretend für andere. In dieser Form konnte sie auch professionell betrieben werden, wofür es spezielle Tarife gab.
Pilgerreisen veranlasste man auch testamentarisch. Ebenso wurde es im Spätmittelalter vermehrt Usus, auch Kriminelle zur Sühne zu Pilgerreisen zu verpflichten, wobei sich die Heimatgemeinde zugleich des Delinquenten für einige Zeit sehr praktisch entledigen konnte.
Eine Pilgerreise gründete sich oft nicht allein auf religiöse Motive. Sie konnte auch mit Geschäftsinteressen verbunden oder für erste Informationen zu weiteren Handelsbeziehungen genutzt werden.”

Um Sünden/Schuld loszuwerden, reicht ein einfaches Gebet um Vergebung. Dazu ist nichts anderes als Reue nötig. Wir müssen und können nichts leisten dafür. Auch die Liebe Gottes lässt sich mit keiner Leistung irgendwie verdienen. Es stimmt mich nachdenklich, traurig und sogar wütend, dass viele Menschen dies noch immer nicht verstehen.  Klar kann es Blasen geben, gibt es Zeiten der Erschöpfung, muss man manchmal das Etappenziel vor Augen halten, um durchzuhalten, gibt es mühsame, kalte Regentage mit wenig Aussicht, kann es Schmerzen geben. Aber das ist bei jedem Wandern möglich und macht für mich nicht den eigentlichen Unterschied zum Pilgern aus. Schmerzen und Unbill sind nicht zwingend nötig, um ein “echter Pilger” zu sein, sondern sie sind natürliche Nebenerscheinungen, zu denen es gilt, eine gesunde Einstellung zu entwickeln. Denn ich bin der Meinung, dass man nichts tun “muss” auf dem Weg. Niemand – schon gar nicht Gott – zwingt einem zu irgendwas und so sollte auch ein Abbrechen/Unterbrechen/Pausieren jederzeit ohne Schuld- oder Versagensgefühle möglich sein.

Kunterbunte Einblicke unserer Jakobspilgerwoche 6. bis 12. Oktober 19:

Jemand sagte: “Pilgern 40km am Tag ca. 4-6 Wochen, Wandern 20-40 km 1 Tag”. Sowas regt mich auf. Wer schreibt denn eine gewisse Kilometerlänge oder Anzahl Pilgerstunden vor? Klar – die letzten 100 Kilometer vor Santiago müssen zu Fuss, oder 200 Kilometer per Velo oder Pferd zurückgelegt werden, um die begehrte Urkunde zu erhalten, aber abgesehen davon kann ich doch eine Stunde auf einem Pilgerweg unterwegs sein und eine tiefe Gottesbegegnung erleben? Und was ist mit Menschen mit einem Handicap, denen längere tägliche Pilgerstrecken unmöglich sind zu bewältigen? Wie unbarmherzig wir Menschen doch oft miteinander sind. Ich bin überzeugt davon: Gott spielen Kilometer und die Anzahl an Wanderstunden keine Rolle.

In solchen Foren wird immer wieder von wahren Pilgern und blossen Tagespilgern gesprochen. Ich bin der Meinung: wer abwertend vom Pilgern anderer spricht, hat etwas Wesentliches noch nicht gelernt, das gerade ein Pilger intus haben sollte: andere Menschen nicht zu verurteilen. Niemand kennt den Grund dafür, warum jemand sogar per Wohnmobil anreist und nur kurze Strecken auf dem Camino wandert. Das gilt auch für unseren Lebens-Pilgerweg: lernen wir doch, Menschen nicht nach ihrem Äusseren zu beurteilen und nicht zu verurteilen, wenn ihre Handlungen sich von dem unterscheiden, wie wir etwas anpacken würden. Mein Mitmensch hat seinen eigenen Grund für seine Handlungen, für seine Motivation, etwas zu tun oder zu unterlassen. Und es liegt nicht an mir, dies zu verurteilen. Ich kann ihn fragen, versuchen ins Gespräch zu kommen und wer weiss: vielleicht werde ich überrascht sein, wenn er mir seine Lebensgeschichte anvertrauen wird.

Auch die Unterscheidung, dass Wanderer das Ziel einer Berghütte hätten, um sich dort zu verpflegen und Pilger mit einem religiösen Ziel unterwegs sind, lasse ich so nicht gelten. Auch auf einer ganz “normalen Wanderung”, kann ich Gott begegnen und spirituell beschenkt oder herausgefordert werden.

Andere sagen, dass man alleine pilgern soll und wandern im Gegensatz auch in Gruppen erfolgen könne. Ich bin nicht einverstanden damit. Andy und ich pilgern zusammen und finden gemeinsam unausgesprochen zu einem für beide angenehmen Wander-Rhythmus. Wir tauschen miteinander über das aus, was wir auf dem Weg sehen und erleben. Auch hier finde ich wieder eine Parallele zum gesamten Lebenspilgerweg: was wir selber als richtig empfinden, wird so schnell als Massstab für alle Menschen festgesetzt. Warum bloss? Was für dich gilt, mag für mich nicht stimmig sein – und umgekehrt. Warum sind wir Menschen so schnell damit, Gesetze aufzustellen – auch im religiösen Bereich? Du erlebst Gott am besten und intimsten, wenn du alleine unterwegs bist? Gut so. Aber lass mir doch meinen eigenen Weg, Gott zu erfahren. Dein Weg muss nicht mein Weg sein und umgekehrt.

Jemand hat geschrieben: “Wandern oder Trekking ist für mich die Landschaft genießen und körperliche Aktivität. Pilgern hat für mich ein religiöses Ziel und religiöse und spirituelle Hintergründe. Im Vordergrund stehen mentale Herausforderung, Begegnungen mit anderen, Begegnungen mit Gott oder andere spirituelle Begegnungen, Erleuchtungen, Verzicht, Beten und Glauben, Seelenreinigung, Ballast abwerfen, mit mir selbst im Einklang werden, meine Ansichten klären, auf Gottes Spuren unterwegs sein und ankommen, körperlich und mental…” Damit bin ich am ehesten einverstanden. Obwohl auch eine Wanderung spiritueller Natur sein kann…

Und dann gibt es solche, die sagen, ein echter Pilger sei nur derjenige, der in Pilgerstätten übernachtet. Kommt es nicht eher auf die Herzenshaltung an, als auf die Übernachtungsart? Nochmals: wer bestimmt, wer ein echter Christ oder Pilger ist und wer nicht? Du?

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All diese Gedanken forderten meinen Mann und mich heraus, unserer Motivation auf den Zahn zu fühlen. Was ist es, das uns gelüstet, uns auf den Jakobsweg zu begeben? Schnell war uns klar, dass das Spirituelle, die Beziehung zu Gott auf dem Pilgerweg, für uns persönlich, im Vergleich zum blossen Wandern einen grösseren Raum einnehmen soll. Und so kam es, dass wir uns zum Start für unsere Pilgerwoche vom örtlichen Beckenrieder Pfarrer einen Pilgersegen schenken liessen. Dies, obwohl wir beide aus den Landeskirchen ausgetreten sind. Wir haben es sehr genossen, dass er dafür bereit war und zu uns nach Hause kam. Er hielt eine kurze Privatandacht, betete für und mit uns zusammen und besprengte uns symbolisch mit Wasser, das zur Erfrischung dienen soll. Wir haben dieses Zusammensein sehr genossen.

Auf dem Weg selber, nahmen wir uns dann in jeder Kapelle/Kirche auf dem Weg Zeit, kurz zu beten – auch für Anliegen unserer Mitmenschen. Das ist das Gute an dem Jakobsweg: er bietet religiöse Halte geradezu an. Wir haben in unserer Ehe und Familie gelernt, dass Rituale helfen, die Beziehung zu Gott zu pflegen. Und so machten wir das zu unserem Ritual auf dem Jakobsweg….

Manche Wege sind so gestaltet, dass sie Stelen oder Hinweisschilder mit Gedanken hinstellten. So gibt es zum Beispiel den Blattner Liebesweg und jedesmal, wenn ein Weg uns solche Gesprächs- oder Bildimpulse offerierte, nahmen wir dies bereitwillig auf und diskutierten angeregt über solche Themen, auf die wir sonst im Alltag zuwenig zu sprechen kommen. Danke an dieser Stelle allen Gestaltungsgruppen, Künstlern, Kirchen.

Unser Weg

Zuerst pilgerten wir in Tagesetappen ab Seelisberg in Richtung Huttwil und kehrten immer wieder nach Hause zurück. Dann wagten wir uns an ein dreitägiges “Schnupper-Pilgern” und machten erste Erfahrungen damit, alles Benötigte für diese Zeit am Rücken zu tragen und von Ort zu Ort zu ziehen. Nachdem wir dies als gut erlebten, wagten wir uns an eine einwöchige Tour ab Huttwil, wo wir bei unseren Tagesetappen ja zuletzt “landeten”. Wir waren zwischen dem 6. bis 11. Oktober 19 unterwegs und schafften es tatsächlich, unser Wochenziel Freiburg glücklich und auch etwas stolz auf unsere Leistung, zu erreichen. Es gibt da etwas unterschiedliche Kilometerangaben an… Es ist ein ausserordentlich gutes Gefühl zu sehen, dass wir diese ganze Strecke zu Fuss zurückgelegt haben! Es war seltsam, im Zug doch eine ganze Weile nach Hause zu fahren und zu wissen: das alles haben wir zu Fuss geschafft!

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Unterstützung und Hilfe erlebten wir durch Gott und durch ein paar Twitterbekanntschaften. Gerne erwähne ich dankend Petra Hinz, welche täglich nachfragte, wie es uns geht und uns mit Tipps für die nächste Tagesetappe versorgte, dann Via Jacobi und Alice, welche sich zusammen mit ihrem Mann und Hund gleichzeitig wie wir auf dem Jakobsweg befanden, nur auf einer anderen Teilstrecke und dabei kamen sie sogar bei uns zuhause vorbei. 😀

An einem Tag begleitete uns unsere älteste Tochter und wir genossen diese Wandergemeinschaft.

Übernachtet haben wir an ganz verschiedenen Orten. In ausserordentlich romantischen und dennoch günstigen, in Bed and Breakfasts oder einer Bildungsstätte, welche auf der offiziellen Pilgerliste stehen und in anderen einfachen Pensionen. Wir haben zwischen 80 Franken bis 160 Franken für uns zwei (!) pro Nacht ausgegeben – meist inklusive Frühstück.

Blasen erhielten wir beide keine, aber ich hatte schon nach der ersten Etappe am rechten Fuss Achillessehnenprobleme, wohl aufgrund eines Sturzes auf nassen Herbstblättern. Hier erlebten wir ganz klar Gottes Hilfe, denn ich war mir nicht sicher, ob ich Andy zum Abbruch unseres Unternehmens bitten soll.

Die Rucksäcke waren zwischen 5.5 (ich) bis ca. 7 Kilogramm (Andy) schwer. Inklusive Tagesproviant und Getränke. Ich möchte nie und nimmer mit einem schwereren Rucksack pilgern und denke, dass wir auch für eine längere Tour nicht mehr benötigen würden. Ausser, man nimmt noch Schlafsäcke, Isomatte und Zelt mit, dann würde es natürlich schnell schwerer werden.

Gottes Güte schreiben wir es zu, dass wir viel besseres Wetter hatten, als prognostiziert wurde. Täglich schien die Sonne, nur an einem Tag liess sie uns im Stich. Da erreichten wir grad Bern, liessen es mit der Wanderzeit von 2 Stunden 40 gut sein und begaben uns in Bern Aqua. Dafür wollten wir dann am nächsten Tag die verpassten Wanderkilometer aufholen und überforderten uns mit 7 reinen Wanderstunden etwas. Durchschnittlich wanderten wir um die 3 bis 4 Stunden und das war gut für uns. Mehr wollten wir gar nicht. Wir mussten ja niemandem etwas beweisen – und schafften unser Wochenziel dennoch!

Bereits steht fest, dass wir irgendwann ab Freiburg weiter pilgern möchten. Oder ab Sachseln. Denn einen anderen Jakobsweg: Seelisberg-Sachseln über Flüeli-Ranft haben wir ebenfalls bereits unter die Füsse genommen. Oder auch in Deutschland gibt es Jakobswege, welche wir uns vorstellen könnten, zu erpilgern. Und wer weiss: vielleicht erreichen wir eines Tages Santiago de Compostela. Aber es muss nicht zwingend sein – denn für uns ist der Weg das Ziel.

Fotos und kleine Filmli hier (anklicken)


Update: Mittlerweile haben wir die gesamte Strecke Einsiedeln-Genf auf dem Jakobsweg geschafft.