Die 1. Chemoeinheit liegt hinter „uns“. Es war eine emotional und körperlich anstrengende Zeit. Jetzt wissen wir etwas besser, was Chemo heisst. Bisher konnte ich persönlich mir nie so recht ein Bild machen, wie genau so eine Therapie vor sich geht. Und so sieht Chemo also nun aus:
Während ein paar Stunden tröpfeln verschiedene Medikamente in den Körper des Patienten. Im Kantonsspital Luzern ist es so, dass entweder Zweierzimmer oder eine Art Lounge für die Tagesklinikpatienten zur Verfügung stehen.
Unsere Woche sah so aus:
Am Montag, 6. März 17 fährt mein Mann per ÖV auf 8 Uhr ins Kantonsspital und erhält über 9.5 Stunden eine Immuntherapie, als Vorbereitung auf die Chemo. Diese erträgt er ohne Nebenwirkungen. Als ich ihn um 17.30 Uhr per Auto abhole, wirkt er ziemlich fit. Für mich ist es eine Herausforderung, das Auto durch den Stadtverkehr zu lenken, bin ich doch nicht eine wirklich geübte Autofahrerin.
Dienstag, 7. März: mein Mann und ich fahren auf 8 Uhr per Postauto, Zug und Bus ins Kantonsspital. Der Grund, warum wir nicht per Auto fahren ist, dass wir das Auto nicht über so lange Stunden im Parkhaus stehen lassen wollen. Wir rechneten mit hohen Gebühren. Erst am Abend erfahren wir, dass ab 3 Std. Aufenthalt der Patient das Ticket auf der Tagesklinikstation umtauschen kann und dann nur noch 5.– bezahlen muss. Manchmal wäre man froh, man hätte gewisse Infos im Vorfeld. Ich bin mir diese Informationspolitik eigentlich nicht gewohnt vom Kantonsspital Luzern. Wenn ich mal was hatte, habe ich immer einen Zettel mit allem Wissenswerten im voraus erhalten. Wir nahmen zum Beispiel auch an, dass wir per Auto nicht direkt vor den Haupteingang fahren dürften. Denn vor der Schranke ist ein allgemeines Fahrverbot und zusätzlich heisst es: „Nur für Notfälle“. Also, jemand abzuholen, ist für mich kein Notfall. Und dennoch fuhren soviele Autofahrer durch diese Schranke hindurch? Alles akute Notfälle? Ich hatte mich am Montagabend nicht dafür, meinen Mann dort abzuholen und wartete auf ihn bei der Einfahrt der Mitarbeiterparkplätze. Die Dame am Infoschalter aber klärte mich dann auf meine Frage hin auf: doch für ca. 15 Min. darf man vor dem Haupteingang und dem Platz rundherum parkieren, um jemand auszuladen oder abzuholen. Warum wird einem das nicht vorher gesagt?
Ich leiste meinem Mann bis nach dem Mittagessen Gesellschaft. Es sollte das letzte volle Menü sein, dass er und ich für längere Zeit geniessen können. Doch das ahnen wir da noch nicht. Ich erhalte das komplette Menü mit Getränk als Angehörige eines Patienten gratis. Sehr grosszügig!
Nach dem Mittagessen versuche ich mich ein wenig abzulenken, indem ich in die nahe Stadt etwas lädelen gehe. Mein Mann hält ein Nickerchen.
Später geniessen wir unser Zusammensein trotz allen widrigen Umständen und werden um 17.30 Uhr von unserer lieben Nachbarin per Auto abgeholt. Auch an diesem Tag klagt mein Mann über keine negativen Nebenwirkungen der Chemo.
Mittwoch, 8. März: die Chemo dauert an diesem Tag nur am Vormittag. Die letzten zwei Tage lag mein Mann dazu in einem Zweierzimmer. Heute wird er gefragt, ob er bereit wäre, das Bett mit einer Art bequemem Fernsehsessel in einer Tageskliniklounge zu tauschen. Er findet es grad so bequem und kurzweilig, wie im Zweierbettzimmer. Auf mich wirkt diese „Lounge“ futuristisch. Es kommt mir so vor wie ein Blick in die Zukunft: da liegen Menschen ganz bequem und lassen sich per Infusion das Nötige einflössen. Vielleicht in der Zukunft Vitamine, Mineralstoffe oder gar Nahrungsmittel? :-O Dieser Teil der Tagesklinik wirkt für mich nicht wie ein Spital. Aber der Besucherstuhl ist unbequem. Am Abend habe ich derart Nackenschmerzen, dass ich eine Schmerztablette benötigte. Bequemere Sitzgelegenheiten für Angehörige, wären kein Luxus. Dort stundenlang zu sitzen, hängt mit der Zeit an.
Zuhause kann es vorkommen, dass ich ausser meiner Familie keinen einzigen Menschen sehe. Ein Kantonsspital ist ein Ort, an dem ein Riesenbetrieb herrscht. Als hochsensible Persönlichkeit (HSP) prasseln diverse Gerüche (Desinfektionsmittel? Medi? Menschen, Essens- und Teegerüche), Geräusche, aber auch wahrgenommene Emotionen meiner Mitmenschen ungefiltert auf mich ein. Ich stehe vor der Caféteria und beobachte medizinisches Personal. Sie tauschen miteinander aus. Was besprechen sie? Sie sehen so seriös aus. Gehen ihnen die Schicksale ihrer Patienten zu Herzen oder nicht? Dort sitzt eine Frau, sehr bekümmert. Besucht sie jemanden? Hat sie eine schlechte Diagnose erhalten? Plötzlich ein Notfall in der Caféteria: ein Senior bricht zusammen und eine handvoll Ärzte sind sofort zur Stelle. Der Mann wird mit wachsfarbenem Gesicht auf eine Caféteriabank gelegt. Oh nein! Wie tut mir dieser arme „Grossdädi“ leid. Hoffentlich überlebt er dies schadlos. Auf der Station meines Mannes liegen ein Manager, der während der Infusion am Laptop arbeitet, mit der Sekretärin telefoniert und was wegen „Codierungen“ abmacht. Vis-à-vis liegt ein Jugendlicher, der seine Schularbeiten erledigt und der medizinischen Pflegefachkraft erzählt, am Nachmittag gehe er arbeiten (ist wohl ein Lehrling). Weiter hinten im Raum erklärt ein Arzt einer älteren Patientin, dass die Chemo ganz sicher, aber eine Operation vielleicht auch noch nötig sei. Alle Schicksale berühren mich. Die Krankheit Krebs macht vor keinem Status, keinem Alter Halt. Sie kann jeden treffen. Was ich in diesem Abschnitt geschrieben habe, geht mir in Minutenbruchteilen durch den Kopf und durchs Herz. Am Ende der Woche bin ich erschöpft. Weil ich innerlich mitleide mit meinem Mann – und auch den anderen Patienten, weil ich soviel aufnehme mit allen Sinnen und weil ich jeden Tag den für mich ungewohnten und zudem enorm dichten Verkehr per Auto bewältige. Aber zudem auch noch, weil zuhause unterdessen alles liegenbleibt. Zudem habe ich grad zur Zeit enorm viele Schreibaufträge.
Zurück zum Mittwoch: am Mittag darf ich meinen Mann heim chauffieren und zuhause grad sofort an den Herd stehen, um für uns als Familie zu kochen. Am späteren Nachmittag gehts an eine Redaktionssitzung.
Donnerstag, 9. März: meinem Mann ist es wie angerührt schlecht. Geplant wäre gewesen, dass er per ÖV am Mittag ins Spital anreisen und ich ihn am Abend abholen würde. Doch es ist ihm so übel, dass ich ihn sowohl hin- wie auch retour fahre. Der Verkehr ist derart überlastet und das Parkhaus überbelegt, so dass wir für einen Autoweg, der innert 20 Minuten bewältigt werden könnte, eine geschlagene Stunde benötigen. Deshalb tue ich mir das nicht an, diesen Weg mehr als nötig unter die Räder zu nehmen und bleibe lieber im Spital. Ich habe den Laptop von zuhause mitgenommen und der Plan ist, dass ich an einem Schreibauftrag im Spital arbeiten könnte. Doch der „cheiben“ Laptop lässt sich nicht starten. Eine Pflegefachkraft bemüht sich, mein Problem zu bewältigen. Ich drücke meine Dankbarkeit aus, aber auch, dass sie ja bestimmt andere Aufgaben zu erledigen hätte, als ausgerechnet noch bei meinem Laptopproblem eingreifen zu müssen. Sie verlässt, sich einverstanden erklärend, das Zimmer und ich beginne zu schluchzen. Meinen Mann so elend zu sehen, ist der Hauptgrund. Dass der Laptop nicht läuft und zuhause die Arbeit liegen bleibt, sind die Tropfen, welche das Fass zum überlaufen bringen. Meinem Mann geht es nach einer Tablette schnell besser und auch der Laptop startet doch noch.
Ich darf wissen: meine liebe Nachbarin kümmert sich ja wenigstens ums Zusammenfalten unserer Wäsche. Doch zuhause angekommen, erwartet uns eine grosse Überraschung: nicht nur die Wäsche ist zusammengefaltet, auch alle Böden sind staubgesaugt, feucht aufgenommen und das Parket glänzt, weil die Nachbarin es mit Parkettpflegemittel bearbeitet hat. Es ist so schön, von so lieben Mitmenschen umgeben zu sein.
Freitag, 10. März: meinem Mann ist es trotz Medis gegen Übelkeit immer noch schlecht. Wir schaffen es, wenigstens einen Spaziergang ins Dorfcafé zu machen und treffen eine liebe Bekannte. Ich fahre ihn zum Coiffeur zu einer anderen Bekannten im Nachbardorf. Auch das geht ihm gut, trotz flauem Magen. Ich nehme einen Interviewtermin wahr. Heute ist zum Glück chemofrei. Die erste Woche ist geschafft. Jetzt gibt es drei Wochen Pause und dann werden wieder 3 Tage Chemoeinheiten dran sein. Dieser Rhythmus wird bis September unseren Alltag prägen.
Samstag, 11. März: noch immer ist es meinem Mann übel. Seit Donnerstag mag niemand von unserer Familie richtig essen. Keiner hat wirklichen Appetit. Mein Mann hat 6 kg abgenommen und das ist nicht so ideal. Wir erholen uns alle etwas an der Sonne auf dem Balkon. Ich pflanze Primeln in Kistchen und hoffe, dass ihre Farben auch uns etwas Lebensfreude bringen. Unsere älteste Tochter macht ein Krankenbsüechli bei ihrem Vater.
Sonntag, 12. März: meinem Mann geht es etwas besser. Die andere Tochter besucht uns. Wir schaffen es in den Nachmittagsgottesdienst unserer Freikirche, wo wir immer viel Liebe erfahren und auftanken können.
Montag, 13. März: mein Mann nimmt die Arbeit wieder auf, nachdem er letzte Woche krank geschrieben war. Es geht ihm „ordeli“ (ordentlich/zufriedenstellend). Noch haben wir alle nicht denselben Appetit wie sonst, aber es kommt glaub langsam wieder besser.
Wir sind von vielen lieben Menschen umgeben welche sagen: wenn ihr was braucht, meldet euch. Wir sind gern für euch da. Ihr seid nicht alleine. Was für ein Glück!
Aber es ist schon eine Ausnahmesituation, in der wir stehen. Das Ganze trägt für meine Empfindungen was Surreales. Ich wähne mich manchmal einfach im falschen Film. Nicht als Zuschauerin, sondern mit meinem Mann zusammen als Schauspieler. Das was hier passiert, ist doch nicht wirklich real, oder? Leider aber schon. Die Leukämie und der Kampf gegen sie, ist brutale Realität.
Mascha Kaleko
„Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?
Allein im Nebel tast ich todentlang
und lass mich willig in das Dunkel treibe…
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.
Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr –
und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
doch mit dem Tod der andren muss man leben!“
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