Diesen Artikel habe ich für den Nidwaldner Blitz verfasst. Publikation am 7. November 18

Sie ecken vielfach an, werden gar als frech empfunden, können sich schwerlich in andere einfühlen, haben Schwierigkeiten Freunde zu finden, vermeiden oft den Blickkontakt und bevorzugen geregelte Tagesabläufe und Rituale – Menschen mit der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung (ASS).

Menschen mit dieser Diagnose, haben aber auch ganz viele Stärken. So sind ihnen Hintergedanken und Lügen fremd und wenn sie sich für ein Thema interessieren, vertiefen sie sich meist mit grosser Konzentration und Ausdauer darin. Wie es der Name «Spektrum» ausdrückt, ist die Spannbreite des Autismus gross und Störungen zeigen sich sehr unterschiedlich. So kann es sein, dass ein Autist nicht sprechen kann und ein anderer fast nicht zu bremsen ist in seinem Sprachfluss. Der Begriff «Autismus» kommt aus dem Griechischen und meint jemand, der «sehr auf sich bezogen ist».

Formen des Autismus-Spektrums

Autistische Merkmale können einerseits früh im Leben sehr ausgeprägt auftreten oder so, dass sie erst viel später auffallen. Symptome von Autismus zeigen sich in der Sprache, in Auffälligkeiten der sozialen Interaktionen (Mimik, Gestik, ungeschickte Kontaktaufnahme) und indem Betroffene stereotype Verhaltensmuster an den Tag legen. Dies meint zum Beispiel das unaufhörliche Drehen an Rädern von Spielzeugautos, Aufreihen von Gegenständen oder indem sie Mühe mit Programmänderungen haben. Der 20-jährige Marco Odermatt, erhielt die Diagnose «frühkindlicher Autismus» im Alter von zwei Jahren. Sein Vater, Reto Odermatt, Präsident des Vereins Autismus deutsche Schweiz, erinnert sich: «Wir haben extrem schwierige Zeiten erlebt als Eltern eines autistischen Kindes. Niemand kannte damals Autismus. Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, begrüsste mich Marco nie, sondern war nur physisch anwesend und wirkte ansonsten apathisch. Ich konnte Marco lange Zeit gar nicht auf den Arm nehmen und keinen Augenkontakt herstellen. Heute hat Marco grosse Fortschritte gemacht. Er nimmt sogar Blickkontakt auf und hat sich in jahrelangem Training selber das Schreiben angeeignet.» Sind bei Kindern nicht alle drei Bereiche der Sprache, sozialen Interaktionen und Verhaltensmuster auffällig, spricht man von atypischem Autismus. Sind die Merkmale noch weniger deutlich erkennbar, wird oft sogar erst im Erwachsenenalter die Diagnose Asperger-Syndrom gestellt. Solche Menschen zeigen in den ersten Lebensjahren eine normale Entwicklung und frühestens im Zusammenleben mit anderen Menschen Auffälligkeiten. So haben sie Schwierigkeiten, Empathie zu empfinden und verstehen Ironie oder Wortspielereien wörtlich. Manche Menschen mit dem Asperger-Syndrom haben eine Vorliebe für Formeln, Fahrpläne, technische und historische Daten. Sie sind oft geruchs-, geräusch-, berührungs- und lichtempfindlich.

Ursache und Förderung

Autismus-Spektrum-Störungen entstehen nicht durch Erziehungsfehler. Die Ursachen sind bis zum heutigen Tag nicht restlos geklärt. Man nimmt an, dass genetische und biologische Abläufe vor, während und nach der Geburt das Gehirn beeinträchtigen und eine Autismus-Spektrum-Störung auslösen könnten. Als die Familie Odermatt die Diagnose bei ihrem Sohn erhielt, fühlten sie sich damit überfordert und suchten vergeblich Unterstützung vor Ort. Heute ist Reto Odermatt Präsident des Vereins Autismus deutsche Schweiz. Hier erhalten Betroffene und deren Familien vielfältige Auskünfte und finden eine Austauschplattform. Der Verein organisiert Tagungen und engagiert sich in Politik und Gesellschaft. Er zählt aktuell 1500 Mitglieder. In der Schweiz leben, laut Auskunft des Vereins, rund 80’000 Menschen mit der Diagnose ASS.

Marco Odermatt, 20 Jahre alt, Autist

Marcos Woche sieht so aus, dass er jeweils drei Stunden vor- und drei Stunden nachmittags zuhause von drei Betreuerinnen gefördert wird. Sein Vater, Reto Odermatt, erklärt: «Das Vorgehen ist sehr strukturiert und wird monatlich an die Bedürfnisse von Marco angepasst. Schreiben, Logikspiele, Zusammensetzspiele, Übungen am PC, Arbeiten im Haushalt gehören dazu. Montags, mittwochs und freitags, geht Marco in die Schreinerei Biber und Specht in Dallenwil arbeiten. Er hat dort eine 1:1 Betreuung, denn seine Mutter begleitet Marco zur Arbeit.»

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Interview mit Marco Odermatt

Die gegenseitige «Du-Form» war abgesprochen und die Interviewfragen hat Marco Odermatt schriftlich beantwortet, da er nicht zu sprechen vermag.

Wenn du Mitmenschen beobachtest, bemerkst du dein «Anders-Sein». Wo fällt dir das am meisten auf? Macht dir das Mühe?

Dass ich anders bin, merke ich, wenn Leute mich manchmal blöd anschauen. Sie haben einfach keine Ahnung, wie das für mich ist. Es ist nicht schön für mich. Aber ich habe so viele gute Leute um mich. So bin ich glücklich und habe viel Spass.

Wie sollen dir die Mitmenschen begegnen, was wünschst du dir von Ihnen?

Die Leute sollen ganz normal mit mir sein. Auch ich habe Spass am Leben.

Macht dir deine Arbeit Spass?

Arbeiten tu ich gerne. Das macht mir grossen Spass. Ich habe gute Leute da.

Welches sind deine Hobbys?

Ich reite sehr gern. Dann noch: wandern auf einem Berg, schwimmen mit Papa, Autofahren mit Leuten, Computerspiele machen und Puzzle mache ich auch gern.

Bist du zufrieden mit deinem Leben?

Ja, ich bin sehr zufrieden.

Was wünschst du dir für deine Zukunft?

Ich wünsche mir, dass alles noch lang so weitergeht. Auch dass ich noch weiter zu Hause sein kann. Es ist am Schönsten da.

Was sollen die Leser des Nidwaldner Blitz über Autismus wissen?

Alle Leute müssen wissen, dass wir anders sind. Wir denken anders. Wir brauchen viel Hilfe. Wir haben nicht gern zu viele Leute auf einmal. Zu viel und grossen Lärm, mögen wir nicht. Wir haben auch mal gern Ruhe. Für mich ist es schlimm, wenn die Leute meinen, ich sei blöd. Das stimmt nicht. Ich verstehe alles, wenn sie reden. Sie sind nicht viel gescheiter als ich. So habe ich auch viele gute Seiten. Ich bin eigentlich sehr glücklich.

 

Marco Odermatts Vater schliesst mit einem Plädoyer: «Sparen wir nicht auf Kosten von Menschen mit Autismus! Investieren wir in diese Menschen. Denn sie können gezielt gefördert werden.  Dies zeigt die erfreuliche Entwicklung von Marco. Dazu braucht es aber eine intensive individuelle Förderung. Da reichen ein paar Stunden Zusatz-Betreuung pro Woche, beispielsweise in der Schule, nicht aus. Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang die Familien. Speziell die Eltern sind mit einem Kind mit Autismus extrem belastet und gefordert. Da wünsche ich mir auch mehr Unterstützung. Geht unbedingt offen auf autistische Menschen zu und übt euch in Toleranz. Sie haben eine spezielle Wahrnehmung und verhalten sich auch entsprechend anders als wir. Lasst euch überraschen!»

Regula Aeppli-Fankhauser